Passagen
Mittwoch, 4. Januar 2006
Kunst macht Geschichte

«sichten / serious series # 1» / Im Kaskadenkondensator stellen zwei Kunstschaffende historische Prozesse als ein komplexes, artifizielles Geflecht dar.


Ein handschriftliches Familienfundstück steht am Anfang eines Kunstprojekts, das im Dezember 2005 im Kunstraum Kaskadenkondensator in Basel gezeigt wurde. Die beiden Kunstschaffenden Esther Ernst und Jörg Laue haben sich von den Aufzeichnungen eines Familienbuchs, einer Estrich-Entdeckung, zu einer künstlerischen Forschungsreise inspirieren lassen, die den Prozess der Geschichtsschreibung anhand historischer Quellen nachvollzieht und gleichzeitig hinterfragt. «sichten» heisst die erste Folge des Projekts «serious series», weitere Folgen sind geplant. Zuerst aber stellen die beiden dem Publikum jetzt in einer auf den ersten Blick dokumentarischen Ausstellung ihr historisches Arbeitsmaterial vor: Der Basler Missionar Karl Ernst hat im Indien des ausgehenden 19. Jahrhunderts Buch geführt über seine Erlebnisse und die Geschicke seiner Familie. Diese Aufzeichnungen stehen im Zentrum der Ausstellung. Faksimiles einzelner Seiten aus dem Familienbuch, mehrfache Durchschläge der mit Schreibmaschine geschriebenen Abschriften und schliesslich Fotografien, ebenfalls zeichnerisch reproduziert, spielen mit der Materialität des Archivmaterials, stellen die Frage nach der Beziehung zwischen Original und Fälschung und nach der Darstellbarkeit von Geschichte generell. Der künstlerische Prozess, der sich hier ablesen lässt und der auch den performativen Akt des Betrachters mit einschliesst, gleicht in manchem der Arbeit und den Gesten der Historikerin: Das Recherchieren im Basler Archiv, das Sichten von weiterem Material, das das Leben des Missionars Karl Ernst dokumentiert, die mühsamen Entzifferungsversuche der Sütterlinschrift, in der ein Teil seiner Aufzeichnungen geschrieben ist. Der hölzerne Karteikasten, der auf dem mit Samt bespannten Bord mit den unter Glas ausgestellten Schriftstücken und Fotografien steht, gibt Aufschluss über die Denk- und Arbeitsprozesse der beiden Kunstschaffenden. Die Lektüre der einzelnen Kärtchen produziert ein (jeweils eigenes) Bild vom Leben des Missionars und spannt den narrativen Faden auch zu anderen Denkern der Archive, etwa Walter Benjamin und Jacques Derrida. Dass historische Prozesse immer schon subjektiv und anfällig für Fälschungen sind, wird auch dadurch reflektiert, dass in den Abschriften und Kopien der Texte und Fotografien minimale Änderungen vorgenommen worden sind.

©Copyright 2005 by Jana Ulmann. All rights reserved.

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Obszöne Blicke

Die Compagnie Philippe Saire liefert mit der Choreografie «[ob]seen» keinen gefälligen Tanz, sondern konfrontiert das Publikum mit der Frage, womit es seine Blicke gerne bedient haben möchte.


Im Jahr 1974 zeigt Marina Abramovich unter dem Titel «Rhythm 0» eine Performance, in der sie 72 Objekte auf einem Tisch präsentiert, die das Publikum nach Wunsch am Körper der Performerin einsetzen kann. Marina Abramovich selbst übernimmt für die Dauer der rund sechsstündigen Performance die volle Verantwortung über das Geschehen. Auf dem Tisch liegen nicht nur harmlose Objekte wie Kleider oder Blumen, sondern auch eine Pistole mit Patrone, Ketten, Nägel und Messer.
An die Bilder dieser vor mehr als 30 Jahren durchgeführten Performance erinnert man sich an den TanzTagen Basel 05 im Theater Roxy im ersten Teil des Stücks «[ob]seen» der Lausanner Compagnie Philippe Saire spätestens dann, als ein Tänzer auf dem Podest in der Bühnenmitte von vielleicht vier Quadratmetern seinen entblössten Hintern dem Publikum zum ficken anbietet. «Fuck me» steht auf dem Schild, das über seinem Rücken baumelt. Das Publikum lässt sich nicht bewegen, auch wenn der Tänzer sein Angebot mehrmals mündlich bekräftigt. Die Leuchtziffern der digitalen Uhr, die über der Bühne hängt, zeigt Minute 32 an und man wohnt schon seit einer halbe Stunde einer Abfolge von Szenen bei, in denen vier Tänzer und zwei Tänzerinnen ihre Körper vor dem Publikum entblössen: Ein Kopfstand auf dem Podest lässt das Kleidchen über den nackten Körper der Frau gleiten, zwei Männer reissen einer Frau brutal die Hose herunter. Kleider ausziehen, Körper zeigen, Geschlechtsteile vorführen, Kleider anziehen, aufs Podest und wieder runter. Die Zuschauer sitzen dabei im gedämmten Saallicht und können sich nicht ins sichere Dunkel stehlen. Entsprechend ist die Spannung, die sich zwischen den Performern und dem Publikum aufbaut. Die Blicke werfen sich in diesem obszönen Spektakel in alle Richtungen.
Philippe Saire gehört zu den wichtigsten Protagonisten des Schweizer Tanzschaffens. Nebst der eigenen choreografischen Arbeit setzt er sich als künstlerischer Leiter des «Théâtre Sévélin» unermüdlich für die freie Tanzszene und für die Förderung des jungen Tanzschaffens ein. Der Tänzer und Choreograf liefert keine gefällige Tanzkost. Eher ist ihm der Tanz ein Medium, das zum Durchleuchten der Gesellschaft und zur Reflexion der eigenen Position als Tänzer eingesetzt wird. Entsprechend düster sind oft die Stücke, Gewalt ist immer in irgendeiner Form ein Thema, die Bewegungen sind kraftvoll und erproben die Grenzen des Machbaren. Das haben schon die beiden Stücke gezeigt, die die Compagnie Philippe Saire bisher in Basel aufgeführt hat, «Les Affluents» und das Solo «Jour de fuite». Eigentlich zum Tanzen kommt die Compagnie im Stück «[ob]seen» erst in der zweiten Hälfte. Die digitale Uhr zählt in der zweiten Halbzeit die ersten vierzig Minuten wieder zurück. Man könnte diesen zweiten Teil als eine Art Entgegnung auf den ersten performativen Teil des Stücks lesen: Was passiert mit den Menschen und ihren Körpern, wenn sie so ausgesetzt, ausgestellt und gedemütigt werden, wie das im ersten Teil bis zum Exzess vorgezeigt worden ist? Demonstriert wird eine Bewegungssprache der Entgleisungen: Bis zur Erschöpfung werfen sich die Tänzer und Tänzerinnen auf den Boden, stossen gegeneinander und voneinander ab, taumeln, schlenkern, wippen und zittern zum dröhnenden Sound und flackernden Licht über die Bühne.
Philippe Saire stellt mit «[ob]seen» nachdrücklich die Frage danach, was gezeigt werden kann und was gesehen werden will: Die Frage ist in Zeiten, in denen man sich mit der Bierflasche gemütlich auf dem Sofa sitzend den harten Stoff der Nachrichtensendungen mit den neuesten Monstrositäten einverleiben kann, noch so aktuell wie vor dreissig Jahren. Allerdings lässt sich die immer gleiche, auswegslose Frage anschliessen, die sich auch bei der Betrachtung von Philippe Saires Stück stellt: Lässt es sich dem Monströsen oder dem Obszönen beikommen, indem es gezeigt wird? Eine Antwort könnte das Schlussbild des Stückes liefern, das das menschlichen Verlangen nach Schutz und Zärtlichkeit zeigt: Ein Tänzer und eine Tänzerin liegen aneinander gedrängt am Boden, er drückt seinen Kopf immer stärker gegen ihren Bauch, wie wenn er darin versinken wollte.

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