Passagen
Mittwoch, 19. Februar 2003
Die Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken

Schrebers epochales Buch wird hundert Jahre alt. Mit einem Symposium haben sich Wissenschaftler mit dessen Funktion als Motor in der Kulturgeschichte des 20. Jahrhunderts auseinandergesetzt.

Im Frühjahr vor hundert Jahren, im März 1903, erschien im Leipziger Verlag Oswald Mutze ein seltsames Buch mit dem Titel „Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken nebst Nachträgen und einem Anhang über die Frage: Unter welchen Voraussetzungen darf eine für geisteskrank erachtete Person gegen ihren Willen in einer Heilanstalt festgehalten werden?’“. Selbsterklärtes Ziel des Autors dieser Aufzeichnungen, des entmündigten und für geisteskrank erklärten Dr. jur. Daniel Paul Schreber, eines ehemals hohen Rechtsbeamten, ist seine Rehabilitation. Tatsächlich wird der seit Jahren in der psychiatrischen Heilanstalt auf dem Sonnenstein in Pirna bei Dresden Internierte schon 1902 aufgrund seiner Schriften aus der Klinik entlassen. Die Entmündigung wird aufgehoben, nicht aber die Diagnose der Geisteskrankheit.

Interdisziplinäre Zugänge

Texte, so sei zugespitzt behauptet, sind Diskursmaschinen, deren kultureller In- und Output der Dynamik ihrer eigenen Ordnung untersteht. Schrebers Text ist so eine Maschine, die eine Reihe von kulturellen Diskursen in Gang gesetzt hat und immer noch in Gang setzt. Die Erfolgsgeschichte des Textes geht 1911 weiter mit Sigmund Freuds Bearbeitung als autobiographische Aufzeichnungen eines Paranoiden in einer seiner Fallgeschichten. Aber Schrebers Fall wandert sozusagen durch die Kulturgeschichte des zwanzigsten Jahrhunderts: So war Walter Benjamin ein Leser von Schrebers Text, Elias Canetti behandelt ihn in „Masse und Macht“, der Psychoanalytiker Jacques Lacan widmet ihm ein wichtiges Seminar, er taucht im „Aufschreibesystem“ des Literatur- und Medienwissenschaftlers Friedrich Kittler wieder auf und findet, ohne dass die Aufzählung damit abgeschlossen oder vollständig wäre, in Alex Proyas Film „Dark City“ selbst durch Hollywood eine geniale Umsetzung.
In einem Symposium wurde am Samstag die Diskussion um das schrebersche Textuniversum aufgenommen. Die Organisation oblag Martin Stingelin, Förderungsprofessor für ein Nationalfondsprojekt an der Universität Basel mit dem Titel „Schreibszenen“, und Georg Christoph Tholen, Professor am Basler Institut für Medienwissenschaften. Schrebers Text hat sich seit seiner Entstehung immer schon in verschiedensten Fächern und Diskursen eingeklinkt. Entsprechend breit war die fachliche Brandbreite der Beiträge der Teilnehmer aus Soziologie, Psychoanalyse, Literaturwissenschaft, Medienwissenschaften und Geschichte.

Im Sog der Lektüren

Was sind die „Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken“ für ein Text? Die Fallgeschichte eines Paranoiden oder ein literarisches Meisterwerk, Poesie oder Wahngespinst? Die Lektüre jedenfalls, so bestätigt Wolfgang Hagen, Medienwissenschaftler und Radioredakteur aus Berlin, ist ein schwieriges und immer auch von der Gefahr des Scheiterns begleitetes Abenteuer, bei dem man zuweilen sich auf unsicheres Terrain begibt und im Sog von Schrebers Sprache zu versinken droht. Das wussten auch schon Schrebers prominente Leser und Interpreten Freud und Lacan. Die Ergebnisse, zu denen die Lektüre Anlass gibt sind entsprechend vielfältig. Man kann sich wie Gerhard Busse für die biographischen Hintergründe von Schreber interessieren. Man die Psychiatrie der Zeit selbst als „Wahnsystemen“ hinterfragen, wie der amerikanische Psychoanalytiker Zvi Lothane es getan hat. Mit Schrebers Text lassen sich aber auch, wie Georg Christoph Tholen unter Berufung auf Lacan gezeigt hat, Einsichten in die Zusammenhänge von Subjektivität und Sprache gewinnen. Wolfgang Hagens Einbettung des Textes in die Diskurse von Spiritismus und Mesmerismus als Bewegungen der Gegenmoderne letztlich haben Schrebers Textstrategie der eigenen Rehabilitation nochmals stark gemacht. Martin Schaffners subtile Interpretation von Polizeirapporten und amtsärztlichen Gutachten zum Fall von Baslern, die um 1900 in die Friedmatt eingeliefert wurden, wirft schliesslich die Frage auf, wie solche „Schicksale“ sich anhand amtlicher Verfahren überhaupt rekonstruieren lassen. Methodische Fragen, die sich auch an Schrebers Text stellen lassen.
Es bleibt mit Spannung die neue, auf den Herbst dieses Jahres angekündigte wissenschaftliche Ausgabe der schreberschen „Denkwürdigkeiten“ zu erwarten. Die Edition verspricht, um Faksimiles und ein Stichwortverzeichnis erweitert, den Text wieder verfügbar zu machen. Zur Zeit ist Schrebers Buch nämlich nur noch antiquarisch zu ergattern.

Copyright (c) 2003 by Jana Ulmann, Switzerland.

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