Passagen
Montag, 30. Juni 2003
Die Fiktion wahrer Geschichten

Wie wandert die Welt in literarische Texte? Über diese Frage lässt sich anhand eines neuen Erzählbands von Hans Christoph Buch bestens philosophieren. Im Literaturhaus in Basel wurden die Texte in einer Lesung vom Autor vorgestellt.

Die grosse Frage, die Literaten und Lesende gleichermassen umtreibt, ist jene nach der den Texten zugrundeliegenden Realität. Dabei lassen sich zwei Parteien ausmachen. Die Einen bestehen darauf, dass literarische Texte in erster Linie als Sprachkunst zu verstehen seien und sich deshalb um die Welt ausserhalb ihrer selbst nicht zu kümmern brauchen. Die Anderen sind der Ansicht, dass die Welt, ohne dass dem Text ein direktes Abbildungsverhältnis unterschoben werden müsste, immer in die geschriebene Sprache einfliesst.
Iso Camartin der Leiter der Kulturabteilung des Schweizer Fernsehens DRS findet dafür in seiner Einführung zur Lesung von Hans Christoph Buch im Basler Literaturhaus die Formel der Welthaltigkeit. Allerdings, so Camartin, werde die Frage nach eben dieser bei Hans Christoph Buch hinfällig. Denn der Welthorizont des vielreisenden Autors ist unbestrittenes und unverschleiertes Fundament seines Schreibens.
So hat der deutsche Erzähler, Essayist und Reporter Hans Christoph Buch einen meisterhaften Umgang mit den literarischen Spielformen zwischen Fiktion und Realität gefunden. Die Begegnungen, über die sein neuer Erzählband mit dem Titel „Wie Karl May Adolf Hitler traf und andere wahre Geschichten“ berichtet, könnten sich so oder ähnlich abgespielt haben. Die Texte katapultieren sich direkt in die Gravitationszentren totalitärer Regimes des 20. Jahrhunderts. Der Bogen, den die Texte spannen führt durch die ganze Welt: von Deutschland über die UdSSR, China und Kambodscha bis nach Kuba. Geschichte für Geschichte legt Buch so die Mechanismen und absurde Logik totalitärer Systeme frei. Dabei zehren die unerhörten Ereignisse in den Erzählungen von Geschichten und Anekdoten, die, so der Autor im Gespräch nach der Lesung, ihm selbst auf seinen Reisen erzählt worden seien. Der Klappentext bezeichnet die Erzählungen deshalb mit gutem Grund als „Neuerfindung der politischen Novelle“. Die Beglaubigungsstrategie erinnert an orale Erzähltraditionen, der Buch sich auch durch familiären Banden zu Haiti verpflichtet fühlt. Dieser Eindruck ganz nah zu sein bei jemandem, der einem eine Geschichte von Angesicht zu Angesicht erzählt, lässt einem auch bei der eigenen Textlektüre nicht los.
Man kann die Bewegung, die Hans Christophs Buchs Texte zwischen Fiktion und Realität in Gang setzen nicht besser auf den Punkt bringen als mit dessen eigenen Worten. Im Nachwort des neuen Textbandes bringt der Autor einen fundamentalen Skeptizismus gegenüber Textwahrheiten zum Ausdruck. Virtuoser kann man diese Zusammenhänge kaum in Sprache fassen. Seine Geschichten, so Buch seien „wahr, so weit Geschriebenes Wahrheit für sich beanspruchen kann – nicht im Sinne exakter Geschichtsschreibung, sondern im Sinne der Literatur, die den Geschichtsprozess zur Kenntlichkeit hin entstellt.“ Das heisst aber auch, dass Texte, und eben nicht nur Bilder, unsere Sicht auf die Welt massgeblich mitprägen. Buchs Texte schärfen bei seinen Lesern und Lesern das Bewusstsein für genau diese Fragen.

Hans Christoph Buch: Wie Karl May Adolf Hitler traf und andere wahre Geschichten. Frankfurt am Main: Eichborn, 2003.

©Copyright 2003 by Jana Ulmann. All rights reserved.

Online for 7947 days
Last modified: 24.09.09, 22:25
Status
Youre not logged in ... Login
Menu
... Home
... Tags

Suche
Calendar
April 2024
So.Mo.Di.Mi.Do.Fr.Sa.
123456
78910111213
14151617181920
21222324252627
282930
Juni
Recent updates
Die Verführung des Raums
Die Tanzperformerin Cornelia Huber schafft neue Räume und lässt deren Puls...
by ju (15.06.07, 11:41)
Die Erinnerung und der Tod
Eine überhaupt nicht traurige Annäherung an den Tod und die...
by ju (15.06.07, 11:18)
Tanzen mit allen Sinnen Die
aus Tel Aviv stammende Batsheva Dance Company zeigt eine herausragende...
by ju (15.05.06, 12:08)
Kunst macht Geschichte «sichten /
serious series # 1» / Im Kaskadenkondensator stellen zwei Kunstschaffende...
by ju (04.01.06, 21:22)
Obszöne Blicke Die Compagnie Philippe
Saire liefert mit der Choreografie «[ob]seen» keinen gefälligen Tanz, sondern...
by ju (04.01.06, 20:49)
Die Generation X erinnert sich
Die Gisela Rocha Company eröffnet mit ihrem Stück «re mind»...
by ju (17.04.05, 13:02)
Geschichtenvehikel Die Reihe «IMPEX» eröffnet
mit einer Aktion, bei der ein ausgedienter Gepäckwagen eingesetzt wird....
by ju (03.04.05, 16:49)
Dem Ich über die Schulter
geguckt Die Genfer „Alias Compagnie“ präsentiert im Rahmen von STEPS...
by ju (26.04.04, 16:53)
Die Orientsehnsucht auf der Spitze
Der Ballettstar Vladimir Malakhov und sein Ballett der Deutschen Staatsoper...
by ju (09.10.03, 08:24)
Leinwandtänze Als Begleitprogramm zu „Basel
tanzt“ zeigt das Stadtkino Basel eine schöne Auswahl von drei...
by ju (19.09.03, 12:51)
Tanzbilder im Kaleidoskop Anne Teresa
de Keersmaeker und ihre “Rosas” zeigen an "basel tanzt" einen...
by ju (15.09.03, 13:59)
Energie, Emotion und Geschichte Anne
Teresa de Keersmaeker begeisterte im Rahmen von "Basel tanzt" auf...
by ju (15.09.03, 13:25)
Schlichte Schönheit reicher Armut Der
Tänzer und Choreograf Franz Frautschi weckt mit einer reduzierten Inszenierung...
by ju (20.08.03, 10:50)
Kulturtransfer im Tanz Mit seiner
Tanzperformance „Danzital“ betreibt der Choreograph und Tänzer Franz Frautschi Kulturvermittlung...
by ju (20.08.03, 10:42)
Die Leselust kitzeln Der erste
Tag der BuchBasel und des Literaturfestivals ist erfolgreich angelaufen. Neues...
by ju (30.06.03, 12:38)
Die Fiktion wahrer Geschichten Wie
wandert die Welt in literarische Texte? Über diese Frage lässt...
by ju (30.06.03, 12:37)
Körper schreiben - Zum Fall
Barbin Ovid erzählt uns, wie ein Knabe die begierige Umarmung...
by ju (14.06.03, 11:24)
Die abgeschaffte Utopie Revolutionen sind
Schnee von gestern. Auch im Theater und selbst wenn das...
by ju (26.04.03, 13:35)
Die Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken Schrebers
epochales Buch wird hundert Jahre alt. Mit einem Symposium haben...
by ju (19.02.03, 22:38)
Poetik der Bewegung Die Schwestern
Anna und Susanne Huber gastieren mit ihrem „Stück mit Flügel“...
by ju (19.02.03, 22:34)

RSS feed

Made with Antville
Helma Object Publisher