Passagen
Montag, 26. April 2004
Dem Ich über die Schulter geguckt

Die Genfer „Alias Compagnie“ präsentiert im Rahmen von STEPS #9 ihr neues Stück in der Kaserne und zeigt Tanz von der aberwitzigen Sorte.

Fotografien aus Kindheitstagen dürften bei den meisten Menschen eine Gefühlslage zwischen Melancholie und Fremdheit hervorrufen. Das Kinder-Ich ist entschwunden und steckt doch noch in uns. Hinter der scheuen, tapsigen Blonden lässt sich noch das Mauerblümchen von Einst ausmachen und der Macho von Heute ist schon in seiner Jugend ein kleiner Frauenheld gewesen. Solche Bilder evoziert der Choreograph Guilherme Botelho mit seiner Genfer „Alias Compagnie“ im neuen, eigens für die neunte Ausgabe des Tanzfestivals „STEPS“ choreographierten Stück „Vaguement derrière“. Womit die Sache mit der Kindheit, die wir in uns herumtragen, schon im Titel angedeutet wäre. Oder mit der Metapher des Genfer Schriftstellers Georges Haldas ausgedrückt, dessen Texte die Compagnie beim neuesten Stück inspiriert haben: „Wir bewohnen ein Haus, das wir nicht selbst gebaut haben.“
Die Stücke der „Alias Compagnie“ überzeugen immer wieder mit ihren präzisen Umsetzungen einer ganz genau beobachteten Welt. Die Tänzerinnen (Caroline de Cornière, Palina Krause, Corinne Rochet) und Tänzer (Christian Bakalov, Fabio Bergamaschi, Shaun Parker, Joseph Trefeli, Asier Zabaleta) schlüpfen mit Bravour in ihre Rollen und oft genügt nur eine winzige Geste, eine Schnute im Gesicht etwa, um aus den Erwachsenen den Halbwüchsigen zu kristallisieren. Das Resultat sind Bewegungsbilder, die sich auf eine seltsam bekannt anfühlen, weil sie eigene Erinnerungen wachrufen. Die dargestellten Figuren sind stark typisiert und schlittern immer gerade soweit am Klischee vorbei, dass sie noch glaubhaft sind und auf ihre ganz eigene Art auf der Bühne wahrhaftig werden. Da ist alles immer auch ein bisschen auf der Kippe, aber genau diese haarscharfen Grenzgänge machen den Stil der „Alias Compagnie“ aus. Der Aberwitz kippt mit der gnadenlosen Wiederholung schier ins Bodenlose. Genau im richtigen Moment fangen die Tänzer und Tänzerinnen das Szenario auf, das damit als poetisches Bild haften bleibt. Das ist ein dauerndes Hin und Her zwischen Spiel und Kampf, Zärtlichkeit und Grausamkeit, Leichtigkeit und tierischem Ernst.
Die einzelnen Geschichten und Bewegungsbilder des Stücks sind in ein ebenso simples wie bestechendes Bühnenbild von Gilles Lambert integriert. Der Tanzteppich bäumt sich im Hintergrund zu einer steilen Rampe auf, die Rutsche und Kletterwand, Spiel- und Kampfplatz gleichzeitig ist. Darauf und darum treibt die Compagnie Tollkühnes. Der Dandy versucht unnachgiebig und stur eine Frau auf die Rampe zu schleppen, die wie tot über seinem Rücken baumelt und, kaum oben angekommen, schlaff wieder nach unten rutscht. Das blonde Mauerblümchen versucht mit letzter Verzweiflung wieder und wieder die Rampe hochzuklettern, während zwei Jungs im Vordergrund sich solange prügeln, bis einer von ihnen bewegungslos liegen bleibt. Solche Szenen erfordern von den Tänzern und Tänzerinnen einen Körpereinsatz, der bisweilen, selbst für die Zuschauer, bis zur Schmerzgrenze geht.
„Vaguement derrière“ erzählt von der verlorenen Kindheit, vom Erwachsen werden, von der ersten Liebe, davon alles zu gewinnen oder alles zu verlieren und auf der Strecke zu bleiben. Raffiniert ist auch der Umgang mit der Zeitlichkeit. Zum einen wird das Geschehen auf der Bühne, ganz dem momentanen Zeitgeist entsprechend, in die Fünfziger Jahre versetzt. Die Frauen tragen bunte, weit schwingende Kleider, es wird Rock’n’roll getanzt und zu hören gibt’s jede Menge musikalische Evergreens. Ausserdem scheinen die Figuren während des Stücks tatsächlich verschiedene Lebensalter zu durchlaufen. Dazu passt auch das Schlussbild: Ein Mann steht einsam auf der Rampe und blickt von der Hügelkuppe mit dem Rücken gegen das Publikum in den nachtblauen Himmel. Unter ihm eine kleine Hütte auf Rädern, die so klein erscheint, wie etwas aus dem der, der da steht, herausgewachsen ist. „Vaguement derrière“ ist ein Tanzstück, das zwischen Witz und Melancholie und Lust und Gewalt pendelt – dem poetischen Sog, der dabei entsteht, kann man sich als Zuschauer kaum entziehen.

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