Passagen |
Mittwoch, 19. Februar 2003
Die Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken
ju
22:38h
Schrebers epochales Buch wird hundert Jahre alt. Mit einem Symposium haben sich Wissenschaftler mit dessen Funktion als Motor in der Kulturgeschichte des 20. Jahrhunderts auseinandergesetzt. Interdisziplinäre Zugänge Texte, so sei zugespitzt behauptet, sind Diskursmaschinen, deren kultureller In- und Output der Dynamik ihrer eigenen Ordnung untersteht. Schrebers Text ist so eine Maschine, die eine Reihe von kulturellen Diskursen in Gang gesetzt hat und immer noch in Gang setzt. Die Erfolgsgeschichte des Textes geht 1911 weiter mit Sigmund Freuds Bearbeitung als autobiographische Aufzeichnungen eines Paranoiden in einer seiner Fallgeschichten. Aber Schrebers Fall wandert sozusagen durch die Kulturgeschichte des zwanzigsten Jahrhunderts: So war Walter Benjamin ein Leser von Schrebers Text, Elias Canetti behandelt ihn in „Masse und Macht“, der Psychoanalytiker Jacques Lacan widmet ihm ein wichtiges Seminar, er taucht im „Aufschreibesystem“ des Literatur- und Medienwissenschaftlers Friedrich Kittler wieder auf und findet, ohne dass die Aufzählung damit abgeschlossen oder vollständig wäre, in Alex Proyas Film „Dark City“ selbst durch Hollywood eine geniale Umsetzung. Im Sog der Lektüren Was sind die „Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken“ für ein Text? Die Fallgeschichte eines Paranoiden oder ein literarisches Meisterwerk, Poesie oder Wahngespinst? Die Lektüre jedenfalls, so bestätigt Wolfgang Hagen, Medienwissenschaftler und Radioredakteur aus Berlin, ist ein schwieriges und immer auch von der Gefahr des Scheiterns begleitetes Abenteuer, bei dem man zuweilen sich auf unsicheres Terrain begibt und im Sog von Schrebers Sprache zu versinken droht. Das wussten auch schon Schrebers prominente Leser und Interpreten Freud und Lacan. Die Ergebnisse, zu denen die Lektüre Anlass gibt sind entsprechend vielfältig. Man kann sich wie Gerhard Busse für die biographischen Hintergründe von Schreber interessieren. Man die Psychiatrie der Zeit selbst als „Wahnsystemen“ hinterfragen, wie der amerikanische Psychoanalytiker Zvi Lothane es getan hat. Mit Schrebers Text lassen sich aber auch, wie Georg Christoph Tholen unter Berufung auf Lacan gezeigt hat, Einsichten in die Zusammenhänge von Subjektivität und Sprache gewinnen. Wolfgang Hagens Einbettung des Textes in die Diskurse von Spiritismus und Mesmerismus als Bewegungen der Gegenmoderne letztlich haben Schrebers Textstrategie der eigenen Rehabilitation nochmals stark gemacht. Martin Schaffners subtile Interpretation von Polizeirapporten und amtsärztlichen Gutachten zum Fall von Baslern, die um 1900 in die Friedmatt eingeliefert wurden, wirft schliesslich die Frage auf, wie solche „Schicksale“ sich anhand amtlicher Verfahren überhaupt rekonstruieren lassen. Methodische Fragen, die sich auch an Schrebers Text stellen lassen. Copyright (c) 2003 by Jana Ulmann, Switzerland. ... Link
Poetik der Bewegung
ju
22:34h
Die Schwestern Anna und Susanne Huber gastieren mit ihrem „Stück mit Flügel“ an den TanztTagen Basel. Anna Hubers Tanz verselbständigt sich in einer dichten und konzentrierten Bewegungssprache. Zwei seltsame, kleine Objekte flitzen auf dem weissen Tanzboden hin und her. Eine leuchtende Kugel und eine Faltenskulptur kreisen umeinander, nähern sich an, stecken Raum ab. Die surrenden Objekte werden von zwei Frauen mit todernster Miene ferngesteuert, die hinten in der Reithalle der Kaserne auf einem Stuhl sitzen. Dann platziert sich die Pianistin Susanne Huber hinter dem schwarzen Flügel und die Tänzerin und Choreografin Anna Huber schlüpft mit den beiden Füssen zwischen zwei Bahnen des Tanzteppichs. Klappt den Tanzteppich an einer Naht zu einem Riss auf und beginnt sich zu den elektronischen Sounds von Martin Schütz sachte um die eigene Achse zu drehen. Bedächtig schraubt sich die Tänzerin der Naht entlang weiter. Scheint sanfte Spuren zu legen. Das Bild einer Schneelandschaft huscht vor den Augen vorbei. Wellen und Hügel entstehen als die Tänzerin den Tanzteppich mit den Füssen umfalzt und sich auf dem Falz in der Tanzteppichnaht weiter in die Mitte der Bühne bewegt. Das „Stück mit Flügel“ entfaltet sich zur life gespielten Musik der Komponisten György Kurtág, György Ligeti und Franz Liszt . Die elektronischen Sounds haben ihr Eigenleben und funken auch mal ins Klavierspiel von Susanne Huber Genauso setzt diese mit einem Akkord nachdrücklich einen Punkt und erntet damit einen erstaunten Blick ihrer Schwester. Musik und Tanz treten in einen Dialog, Tänzerin und Musikerin hecken mit eiskalter Miene immer wieder neue, überraschende Klangräume und bizarre Bewegungslandschaften aus. Tanz ist bei Anna Huber, dies auch im Kontrast zu den übrigen Stücken des Programms der TanzTage Basel, nicht Medium des Kommentars, ihre Bewegungen sind nicht zuerst tänzerisches Umsetzen, Umfassen oder Realisieren eines Aussenbezugs, einer wie auch immer geformten Welt. Vielmehr bleibt der Kontext abstrakt, mehrfach konnotier- und deutbar. Anna Huber geht von der Bewegung aus, es geht es nicht darum, den tänzerischen Ausdruck für eine Erzählung zu finden. Die Bewegung selbst, die Suche des eigenen tänzerischen Vokabulars rückt ins Zentrum. Das ist wie ein selbstreferentieller Text, der sich selbst seine eigene Welt erschreibt. Das Erfinden einer Bewegungssprache, das Experimentieren damit und das Entwerfen einer eigenen Logik, die sowohl Zeitlichkeit wie Räumlichkeit der Bewegungen erfasst. Erst im Betrachten wird dieser Tanztext zum Bild einer allfälligen Erscheinung in der Welt, von skurrilen Insekten etwa. So spielt der Titel „Stück mit Flügel“ nicht nur auf den Flügel als Instrument an, sondern bezieht sich auch auf die Flügel jener Wesen, die da immer wieder loszuflattern scheinen. Anna Huber ist auch eine Künstlerin der Metamorphosen. In einer Art Häutung schält sie sich drehend aus der dicken Daunenjacke, die sie am Anfang trägt. Immer schneller dreht sie sich zuerst um die eigene Achse, dann schlüpft sie aus den Ärmeln und plötzlich drehen sich Jacke und Körper scheinbar gleichzeitig in entgegengesetzte Richtungen. Ein grotesk verdrehter Körper, der um die eigene Achse wirbelt. Die Jacke bleibt als leere Hülle auf dem Boden liegen. Überhaupt schafft die Tänzerin mit gegenläufigen Bewegungen seltsam fragmentierte Körperbilder. Linker Arm und linkes Bein schwingen gleichzeitig gegeneinander und dann beginnt der rechte Arm dazu sein Eigenleben. Anna Hubers Körper scheint sich in verschiedene Teile im Raum aufzulösen. Das sieht manchmal aus, wie wenn sie ihren Körper immer wieder neu zusammensetzen müsste, wie wenn sie sich der Fernsteuerung durch die Musik entziehen müsste auch. Zur Konzentration auf die Bewegung passt die Gestaltung des Bühnenraums. Requisiten existieren, abgesehen von den zwei Objekten nicht. Gearbeitet wird mit dem, was der vorhandene Raum bietet. Mit dem Bändern des Tanzbodens, die Anna Huber wahlweise in Schneelandschaften, Skulpturen, Kokons und Schleppen verwandelt. Dann ist da natürlich der Flügel und die Lichtgestaltung von Thilo Reuther. Der Raum, auf dem getanzt wird ist durch den weissen Tanzteppich markiert. Die Reithalle selbst wird so zum Ort, den das „Stück mit Flügel“ zum Bühnenraum aufbricht und verwandelt. Was Spiel und Tanz des Duos Anna und Susanne Huber hier eröffnen sind Erkundungen einer Sprache des zeitgenössischen Tanzes. Anna Huber, die Trägerin des diesjährigen Reinhart-Rings, entpuppt sich als Bewegunspoetin. Copyright (c) 2002 by Jana Ulmann, Switzerland. ... Link |
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