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Montag, 15. September 2003
Tanzbilder im Kaleidoskop

Anne Teresa de Keersmaeker und ihre “Rosas” zeigen an "basel tanzt" einen komplexen Tanzabend nach Igor Strawinskys „Les Noces“.

Gleich zwei Choreographien, mit denen die Belgierin Anne Teresa De Keersmaeker letztes Jahr das zwanzigjährige Bestehen ihrer Tanzkompanie „Rosas“ gefeiert hatte, konnte man sich im Rahmen von „basel tanzt“ angucken. In ihrem Solo „Once“ tanzte De Keersmaeker selbst zu den Protestsongs von Joan Baez. Im Gruppenstück „(but if a look should) April me“ konnte man dagegen die furios tanzenden „Rosas“ erleben.
Mit ihrem Stück „(but if a look should) April me“, dessen Titel aus einem Gedicht von EE Cummings entlehnt ist, hat Anne Teresa De Keersmaeker sich nun das erste Mal in ihrem Schaffen an einem Handlungsballett orientiert. Strawinskys „Les Noces“ bildet dafür die Vorlage: die russische Bauernhochzeit war 1923 von Bronislawa Nijinska für die „Balletts Russes“ choreographisch umgesetzt worden. Die Beziehung zwischen der Vorlage und De Keersmaekers Stück könnte man mit dem Bild eines bis zum Äussersten gespannten Gummibandes visualisieren. Die beiden Enden eines solchermassen gespannten Bandes stehen im grösst möglichen Abstand zueinander. In diesem Moment, kurz vor dem Zerreissen, wo das Band der grössten Spannung ausgesetzt ist, liegt auch am meisten Kraft und ist die stärkste Anziehung auszumachen.
Dieses Spannungsverhältnis kann man auch auf die Körperarbeit der „Rosas“ übertragen, und nicht zuletzt auch auf das knapp dreistündig Stück selbst. Denn die durch eine Pause getrennten Teile könnten unterschiedlicher kaum sein. Der Blick des Zuschauers verliert sich am Anfang im Chaos der bläulich ausgeleuchteten Bühne, die verstellt ist mit Tischen und hellblauen Isolierplatten. Einige mit weissem Stoff umwickelte Stangen hängen horizontal versetzt im Raum darüber. Die Tänzer und Tänzerinnen stürmen unter lautem Rufen durch den Zuschauerraum zu einem italienischen Volkslied auf die Bühne. Bringen eine Waschmaschine, Teile eines Bettgestells, Wasser, Blumen und verschwinden damit hinter der Bühne. Damit ist das Thema der Hochzeit eingeführt und wird erst am Ende des ersten Teils, sozusagen als Vorausblick auf den zweiten, noch mal kurz aufgenommen. Der ganze erste Teil wird zur Musik des Filmemachers und Komponisten Thierry de Mey getanzt. Schon für das erste Stück der Kompanie, für „Rosas danst Rosas“ hatte Thierry De Mey die Musik komponiert. Seine Perkussions-Stück „Les Fiançailles“ ist den Elementen Wasser, Erde und Wind gewidmet und wird von den Musikern des Ictus-Ensemble life auf der Bühne gespielt. Die fünf Tänzer und acht Tänzerinnen tanzen in Hosen und Röcken in Farbabstufungen vom eisblau bis grasgrün. Allesamt haben sie nackte Oberkörper. Diese Szenerie ist kalt, gleichzeitig wirkt das alles archaisch. In der Truppe arrangieren sich immer wieder Trios und Duos, die sich mit erstaunlicher Präzision für Zeit und Raum auf der Bühne bewegen. Dauernd wird umgeräumt und Platz geschaffen. Ein dynamischer Fluss von bewegten Bildern, in dem die Tänzer und Tänzerinnen, wie verschiedenfarbige Glassplitter in einem Kaleidoskop immer wieder neue Konstellationen schaffen. Erstaunlich sind die dynamischen Beschleunigungen der Bewegungsfolgen für die De Keersmaekers Choreographien bekannt sind. Das wirkt, wie wenn man einen Film plötzlich vorspulen würde.
Diesem ersten, abstrakten Teil folgt der zweite, eher mit tanztheatralischen Mitteln operierende Teil. Jetzt gibt’s Strawinsky. Im türkisblauen Raum findet ein überdrehtes Hochzeitsfest in schwarzen Anzügen und purpurn schillernden Kleidern statt. Wild, schrill und sinnlich geht’s da zu und her. Das Stück wird immer skurriler. Ein wunderschön getanztes Duo. Der Bräutigam betrügt die Braut zu einem indischen Kinderlied, das die Schönheit der Sterne lobt. Der Raum löst sich auf. Die im ersten Teil sorgfältig zu Wänden aufgestellten Isolierplatten sind eingestürzt. Jetzt tauchen auf der Bühne nur noch einzelne Bilder auf, traumhaft und surreal. Der Bräutigam guckt im Fernsehen Fussball, zwei Tänzerinnen bauen aus den Isolierplatten einen hohen Turm, eine Tänzer und eine Tänzerin probieren Kleider. Am Schluss hängt diese, endlich in gelbem Shirt und schwarzer, kurzer Hose, an zwei Seilen im Raum. Die Schwerkraft lässt die bewegungslos in den Seilen hängende Tänzerin sachte drehen. Ein letztes, grosses, starkes und einsames Bild.

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